Mittwoch, 27. März 2024

Unerfülltes Futur II

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Ein Leser stellt die Frage, ob es richtig sei, zu behaupten, Willy Brandt wäre am 18. Dezember 100 Jahre alt geworden. Denn der 18. Dezember sei ja noch nicht vorbei, der komme erst noch. Grund genug für den Zwiebelfisch, sich ein paar Gedanken über unerfüllbare Möglichkeiten in der vollendeten Zukunft zu machen.  

Frage eines Lesers auf Facebook: Im aktuellen Spiegel steht der Satz: „Willy Brandt, Bundeskanzler von 1969 bis 1974, wäre am 18. Dezember 100 Jahre alt geworden.“ Müsste man nicht sagen „würde am 18. Dezember 100 Jahre alt werden“, da doch der 18. Dezember noch nicht vorbei ist?

Antwort des Zwiebelfischs: Tatsächlich haben wir es hier mit einer sehr bemerkenswerten Vermischung aus vollendeter Zukunft und Möglichkeitsform zu tun. Ich nenne es mal das „unerfüllte Futur II“. 

Über das, was in der Zukunft stattfinden wird oder unter Umständen hätte stattgefunden haben können, lässt sich trefflich spekulieren. Der „Spiegel“ entschied sich dabei für eine Zeit-Modus-Formel, die in der Grammatik als „Konjunktiv II Plusquamperfekt“ bekannt ist: Wann immer jemand etwas „geworden wäre“, handelt es sich um eine Möglichkeit in der Vergangenheit.    

Das Erleben des 100. Geburtstag Willy Brandts allerdings ist eine Möglichkeit in der Zukunft. Hier wäre daher der Konjunktiv II im Futur angebracht. Korrekt müsste man – wie von Ihnen vorgeschlagen – schreiben: „Willy Brandt würde am 18. Dezember 100 Jahre alt werden.“

Man kann das „werden“ sogar weglassen und schlicht und einfach formulieren: „Willy Brandt würde am 18. Dezember 100 Jahre alt“; denn „würde“ ist ja bereits der Konjunktiv von „werden“. „Er würde 100“ und „Er würde 100 werden“ sind gleichbedeutend. Die kürzere Form ist die gehobene, die längere – wie so oft – die umgangssprachliche.

Weil das Erreichen eines Geburtstags einer abgeschlossenen Handlung entspricht (weshalb man beim 18. Geburtstag auch gern von der „Vollendung des 18. Lebensjahres“ spricht), könnte man das Ganze auch mit Fug und Recht im Futur II ausdrücken, sprich: in der vollendeten Zukunft. Auch das müsste allerdings im Konjunktiv geschehen, denn da Willy Brandt nicht mehr lebt, kann er nie mehr 100 Jahre alt „geworden sein“. Es bleibt beim „würde“; denn die Möglichkeit der Vollendung des 100. Lebensjahres bleibt für Willy Brandt auch dann unerfüllt, wenn sie vollendet sein wird. In dieser vollendeten und doch unerfüllten Zukunft heißt es dann: „Willy Brandt würde am 18. Dezember 100 Jahre alt geworden sein.“

Das erscheint aber selbst hartgesottenen Redakteuren zu gewagt, jedenfalls kommt der Konjunktiv II im Futur II  im Journalismus nicht vor. Vielleicht würde er dort irgendwann einmal vorgekommen sein, wenn er leichter auszudrücken gewesen sein würde.

Hier muss ich an Mark Twain denken, der 1880 in einem liebevoll-spöttischen Traktat über „die schreckliche deutsche Sprache“ feststellte: „Danach erst kommt das Verb, und man erfährt zum ersten Mal, wovon dieser Mensch überhaupt redet; und hinter dieses Verb – nur so als Verzierung, soweit ich erkennen kann – schaufelt der Autor noch ,haben sind gewesen gehabt haben geworden sein‘ oder irgendein ähnliches Wortcollier, und fertig ist das Denkmal.“

Das Denkmal für Willy Brandt ist längst errichtet, egal ob sein 100. Geburtstag bereits Geschichte ist oder erst noch stattfinden wird – oder würde. Oder unter Umständen würde stattgefunden haben können. Der menschlichen Vorstellung sind in diesem Falle ebenso wenig Grenzen gesetzt wie der grammatischen Verzerrung.

 

                                         Er wird 100 Jahre alt

 

Indikativ (Wirklichkeitsform)

Konjunktiv II (Möglichkeitsform)

Präsens

Er wird heute 100 Jahre alt.

Er würde heute 100 Jahre alt.

Präteritum

Er wurde gestern 100 Jahre alt.

Er wäre gestern 100 Jahre alt geworden.

Futur I

Er wird morgen 100 Jahre alt werden.

Er würde morgen 100 Jahre alt werden.

Futur II

Er wird dann 100 Jahre alt geworden sein.

Er würde dann 100 Jahre alt geworden sein.

 

 

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